Die Stadt und der Kaugummi

Auf Spiegel Online gibt es eine kleine, bunte Interview-Sammlung über in Singapur lebende Expats. Das wäre prinzipiell keiner Erwähnung wert, aber ich bin über die Aufmachung des Beitrags gestolpert.

„Streng“, steht da gleich im Vorspann, sei der Stadtstaat, und im gleichen Atemzug werden die horrenden Strafen fürs Kaugummi-Ausspucken erwähnt. Das ist offenbar das Lieblingsbild über Singapur: Die Stadt, in der man mehrere hundert Dollar Strafe zahlen muss, wenn man Dinge wegwirft. Der Artikel erwähnt dann unter anderem, dass der Zoll Kaugummis beschlagnahmt, damit man sie nicht ausspuckt, und vor dem geistigen Auge steigt unwillkürlich eine Szenerie mit einem Dutzend schwerbewaffneten Zollbeamten auf, die den ankommenden Touristen noch den letzten Kaugummi aus den Taschen fischen.

Das ist zwar amüsant, aber mit der Realität hat das irgendwie nichts zu tun. Ich bin in Singapur bei keiner meiner Einreisen kontrolliert worden. Meine Mitreisenden auch nicht (ganz im Gegensatz zu Frankfurt, wo asiatisch aussehende Menschen meiner Erfahrung nach standardmäßig als Schmuggler gefilzt, und ihnen sämtliche Lebensmittel aus der Tasche gezogen werden). In der Innenstadt patrouillieren keine Polizisten (jedenfalls nicht mehr, als anderswo; und deutlich weniger als, sagen wir, in der Innenstadt von Peking oder in den vereinsamten Gassen von Monaco). Ja, es hängen in der U-Bahn überall Schilder herum, die darauf hinweisen, dass bestimmte Dinge unter Strafe gestellt sind: Rauchen, mit Feuer hantieren, Durian essen.

Seien wir ehrlich: Wenn etwas irgendwo verboten ist, dann machen es die meisten Menschen auch einfach nicht. Ob die Strafe jetzt 10 Euro oder 500 Euro beträgt, ist im Normalfall völlig irrelevant. (Mal ganz davon abgesehen, dass die Strafe sowieso nur verhängt wird, wenn eben ein Polizist in der Nähe ist.) In meiner Anwesenheit wurde kein einziges Mal ein wild Kaugummi um sich spuckender Tourist festgenommen. (Genauso wenig, wie ich in Deutschland jemals jemanden gesehen hätte, der auf die Sitze gespuckt hat; es gibt Dinge, die machen die meisten eben nicht. Fertig. Klar gibt es solche Fälle, aber sie betreffen nicht den alltäglichen Alltag).

Im Übrigen stimmt auch die Legende vom blitzblank sauberen Singapur nicht so ganz. Ja, Singapur ist überwiegend sauber. Man betrete aber mal nur eine Gasse im „Little India“ Stadtteil, direkt in der Innenstadt, um sich davon zu überzeugen, dass auch Singapur freilich völlig chaotisch, laut und „typisch asiatisch“ sein kann. Dasselbe gilt für die unzähligen Straßenküchen in den Geschäfts- oder Wohnvierteln. Singapur ist nicht steril.

Die Stadt hat ihre Schwächen. Sie ist arbeitswütig, teilweise bis zur Verbissenheit. Manche werfen ihr vor, dass sie durch ihre junge Geschichte etwas künstlich sei. Das politische System ist zwar freier, als viele allgemein denken, aber trotzdem am Ende zentral gesteuert. Wer sich mit Singapuris unterhält, der könnte sich einen ganzen Abend lang diverse Schwächen und Versäumnisse anhören. Man ist eben immer besonders kritisch, wenn es um den Ort vor der eigenen Haustür geht.

Aus asiatischer Sicht (wir sind schließlich ein Vietnam-Blog hier) ist die Stadt aber vor allem eines: Ein Erfolgsmodell. Kein anderer asiatischer Staat ist so modern, so frei von Korruption, so effizient, so sauber und so umweltfreundlich. Das kommt im Übrigen auch aus allen drei Interviews des SPON-Beitrags heraus; keiner der Expats beschwert sich über irgendwelche Restriktionen oder drakonische Strafen.

Trotzdem klebt anscheinend für die meisten deutschen Leser das Bild mit der Kaugummi-Strafe an Singapur wie… wie ein Kaugummi am Schuh eben. Manche Klischeebilder sind offenbar zu schön (oder schaurig), um sie loswerden zu wollen.

One Response to Die Stadt und der Kaugummi

  1. heike says:

    Die Geschichten um Singapur und Spucken waberte bislang auch in meinem Hirn und eigentlich fand ich diese Vorstellung klasse. Da bin ich aber jetzt ein bisschen enttäuscht.
    In Deutschland ist es vor allem bei bildungsfernen männlichen Jugendlichen zur schlechten Gewohnheit geworden, überall auszuspucken, manchmal sogar in Fluren und Treppenhäusern. Ich glaube, das soll eine eine coole Geste sein. Ich hab mal einen darauf angesprochen. Er ewiderte: Soll ich es etwa runterschlucken, boa alter das ist ja voll eklig…

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