Tod einer Schildkröte

Die traurige Nachricht des Tages: Die Schildkröte im Hanoier Hoan-Kiem-See ist offenbar gestorben. Heute Nachmittag entdeckten Passanten das im Wasser treibende, tote Tier. Man muss dazu sagen: Die Schildkröte war, nach allem was wir wissen, alt. Sehr alt. Auch wenn man der Legende nicht Glauben schenken mag, dass es dieselbe Schildkröte ist, die bereits vor Jahrhunderten König Le Loi im Kampf gegen die Chinesen half, war sie trotzdem ein recht altehrwürdiges Tier. Jüngste Versuche, ihr Geschlecht zu bestimmen, und dadurch vielleicht irgendwie die Linie zu erhalten, waren vor einigen Jahren gescheitert.

Nun sterben Tiere, das ist erst einmal nichts ungewöhnliches. Die Schildkröte hat aber tatsächlich, als lebender Mythos, so lange den Hoan-Kiem-See geprägt (inklusive der gerade bei Touristen und Neuankömmlingen häufig gestellten Frage: Gibt es sie denn wirklich? Also: Wirklich wirklich?), dass es tatsächlich ein Schock ist, sollte es sie fortan nicht mehr geben. Es gab dem Hoan-Kiem-See etwas deutlich Verwunschenes, dass dort tatsächlich eine alte Wasserschildkröte hauste, die man, mit ganz, ganz viel Glück, sogar auftauchen sehen konnte.

Natürlich hat die Sache noch eine zweite Implikation: Die Legende besagt ja, solange die Schildkröte lebt, sei Vietnam vor der Invasion der Chinesen geschützt. Die Beziehungen zu China stehen ja aktuell mal wieder nicht zum Besten, bezüglich der Grenz- und Besitzstreitigkeiten im Südchinesischen Meer (auch „Ostmeer“ genannt). Vielleicht hat es damit zu tun, dass offenbar die ersten Berichte über den Tod der Schildkröte plötzlich wieder verschwanden. Vielleicht wollte man die Chinesen nicht auf dumme Gedanken bringen. Nur, so ist das eben mit dem Internet: Was einmal da ist, ist da. Und bleibt. Also auch die Nachricht vom Schildkrötentod. Mittlerweile berichten auch ganz offiziell Vietnamnet (englisch) oder Tuoi Tre (vietnamesisch) (neben, sagen wir, zigtrillionen Blogs und sonstigen Social-Web-Miniseiten).

Ich stelle mir gerade vor, wie im fernen Peking eine Riege betagter Politiker und Generäle die Köpfe zusammenstecken und murmeln: „Die Schildkröte ist tot! Jetzt können wir endlich die Attacke auf Vietnam wagen!“ Und ich gestehe, das Bild lässt mich ja etwas schmunzeln. Weil ich es irgendwie anrührend fände, wenn China sich tatsächlich all die Jahre von einer Wasserschildkröte hätte einschüchtern lassen.

Und ein ganz klein wenig Lächeln tut ja immer gut, bei traurigen Nachrichten.

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