Laut

Die Nachbarin klopfte gestern an die Tür. Sie ist neu in Hanoi. Seit drei Tagen. Und sie ist unglaublich sauer auf den Vermieter. Der habe ihr nämlich vorher nicht gesagt, dass das Zimmer so unglaublich laut sei. Wie ich das denn aushalten würde?

Laut?

„Ja, laut“, sagt die Nachbarin. Der Verkehr draußen. Ständig. Endlos. Stundenlanges Gehupe. Schrilles Gehupe, lautes Gehupe, ständiges Gehupe. Und dann die Bauarbeiten nebenan. Da wird gerade ein Haus renoviert. Ständiges Klopfen und Bohren und Steineklappern. Und dann der Zug vom Bahnhof nebendran. Der Bahnhof, wenn sie das gewusst hätte, dass der Bahnhof nur drei Häuser entfernt ist. Die Züge sind ja so laut. Sie geben schrille Warntöne von sich, und die dauern manchmal minutenlang. Und wenn die Züge fahren, dann wackelt das ganze Haus. Auch nachts noch, um vier Uhr morgens! Kein Auge habe sie zutun können, die ganze Nacht.

An dieser Stelle ist mir aufgefallen: Stimmt. Genauso habe ich mich in der ersten Woche hier auch gefühlt. Obwohl ich schon ein paar Monate Vietnam-Erfahrung hatte, kam mir das neue Zimmer sehr laut vor, direkt an der Hauptstraße. Der Verkehr. Die Bauarbeiten. Naja, und schrille Züge um Vier sind in der Tat eine Frechheit.

Ein halbes Jahr später fällt mir auf: Ich höre nichts. Nichts was mich stört. Draußen hupt es, aber das hakt mein Gehirn irgendwie ab. Ich nehme das nur wahr, wenn ich mich drauf konzentriere. Manchmal wache ich morgens von Hupen auf, dann drehe ich mich um und schlafe weiter. Die Bauarbeiten sind wisperndes Gemurmel im Vergleich zu den Presslufthämmern in der alten Wohnung. Und der Zug… naja, der Zug ist ein echtes Kuriosum. Manchmal pfeift und schreit es schrillend durch die Nacht. Aufwachen tue ich davon schon lange nicht mehr. Manchmal murmele ich ein kurzes „Ja, jetzt ist aber gut!“, wenn es mich abends beim gemütlichen Lesen stört.

Dabei bin ich normalerweise nicht unbedingt geräuschunempfindlich. Laute Hintergrundmusik nervt mich. Leise gelegentlich auch. Überhaupt Geräusche, die unerwartet kommen.

Der Verkehr und der Lärm rund um das Zimmer sind aber mittlerweile nicht mehr unerwartet. Sie gehören dazu. Sie sind normal. Sie sind Teil einer Alltagsmusik, die Hanoi heißt. Ich hab fast das Gefühl, ich würde sie vermissen.

Es ist erstaunlich, zu was das menschliche Gehirn imstande ist.

5 Responses to Laut

  1. martin says:

    Du sprichst mir aus der Seele. Lange habe ich über die Baustelle geflucht. Diese Buddhisten und Artheisten bauen auch am heiligen Sonntag, und dass – vietnamese style – ab 6h. Schließlich gibts das Pho-Frühstück um 5h bei Sonnenaufgang. Dann kann man um 6h auch anfangen.

    Und:

    Ich vermisse es. Tag 3 zurück in DE.

    Heute hab ich gemerkt, dass ich gar nicht mehr für den dt. Verkehr tauglich bin. Eben mal kurz nen U-Turn gemacht. Schon war die Huperei groß. Aber anders. In Vietnam ist es ja eher a la „Ich hupe, also bin ich“. Und vorhin war es „Ich hupe, und Du Sausack bist gleich nicht mehr, wenn Du Dich nicht dünne machst“. So lange war ich aber dann doch noch nicht weg. Mal eben schön zurückgeflucht. Alemanisches Hot Temper klappt noch.

    Ich will mein Motobye!

    Die Baustelle vermisse ich auch, bekam man zumindest ein nettes Lächeln vom Vorarbeiter, wenn man zur Arbeit fuhr.

    Ach alles, ich vermisse alles.

    Auch muss man sich ja hier wieder mit den Nachrichten auseinander setzen. Clement. Was für ein Sommerlochstopfen. Da lobe ich mir Vietnam: Eine Partei, Konsensgesellschaft, basta! (Vorsicht, Ironie)

    Schreib schön weiter Blog, und schade dass wir es nicht mehr auf ein Bier geschafft haben…

    Grüße aus dem viel zu warmen DE (schlimmer als VN, hier keine AirCon, die vermisse ich auch!).

    M

  2. T says:

    ^^ ui, ich sehe so viel vermissen hier. :D Nun erinnere ich mich an einen Satz in einem beruehmten Gedicht von Ch? Lan Viên ( auch ein beruehmter vietnamesischer Dichter) :
    „Khi ta ? ch? là n?i ??t ?, khi ta ?i ??t ?ã hoá tâm h?n“.

  3. GF says:

    Was sagt denn der vietnamesische Dichter? Bitte die deutsche Übersetzung!!!:-)

  4. T says:

    :-((( Frag admin oder andere mal, denn mein deutsch ist nicht gut genug zu uebersetzen. ich versuche mal, “ Wenn wir in einem Ort leben, ist es nur ein normales Ort, aber wenn wir losfahren, ist es schon unsere Seele/ ist es in unserem Herz.“
    (Aber natuerlich nicht schoen wie orriginal :P)

  5. GF says:

    Danke!!!:-)
    Bei uns gibt es einen ähnlichen Spruch: erst wenn du in der Fremde bist, weißt du wie schön die Heimat ist.
    Aber das mit der Seele und dem Herz gefällt mir sehr gut.

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