Unabhängig!

„Die Macht zu erobern ist einfach – sie zu behalten ist viel schwieriger.“ Hat Lenin gesagt. Da der gute Mann durch seine Ideen einen nicht geringen Einfluss auf die vietnamesische Revolution hatte, darf er auch den Einleitungssatz sprechen. Und da unter den Lesern offenbar mehr Interesse an vietnamesische Geschichte besteht, als ich dachte (das zumindest legen die Reaktionen auf den Eintrag vom 19. August nahe), begehen wir den heutigen Unabhängigkeits-Tag mit einer kleinen Mini-Serie zu den Ereignissen in August und September 1945.

Wir fangen hinten an. Nicht aus literarischen Gründen, sondern aus zeitlichen. Am 2. September sollte man auch über den 2. September sprechen. Die zwei Wochen zwischen August-Revolution und Erklärung dann also hier demnächst.

Am 2. September vor 63 Jahren fing die Unabhängigkeitserklärung mit etwas an, das wir heute in Vietnam auch kennen: Mit Verspätung durch zu dichten Verkehr. Ho Chi Minh und seine Delegation hatten nicht mit dem heftigen Andrang zum Ba Dinh Platz gerechnet, der damals noch „Place Puginier“ hieß (so wie fast alle Straßen und Plätze in Hanoi damals französische Namen trugen). In den vergangenen Tagen hatte Ho Chi Minh sehr eifrig an der folgenden Rede gefeilt. Einige Tage nach der vietnamesischen Machtübernahme in Hanoi war er selbst in der Hauptstadt eingetroffen. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass der 55-Jährige überhaupt Hanoi betrat. 1910 war er als junger Mann auf der Suche nach Antworten aus Vietnam ausgereist und erst 1941 auf geheimen Pfaden wieder zurückgekommen. Eine unfreiwillig lange Abstizenz, denn schon bald war Ho ein vom französischen Geheimdienst gesuchter Mann – wegen seiner im Folgenden aktiven Zeit als Mitglied der französischen und sowjetischen Kommunisten. Damit hätte ihm bei der Wiedereinreise Verhaftung und Exekution gedroht.

Dieser Mann, wie gesagt bereits 55, unter der Bevölkerung aber bereits ein Mythos als tatkräftigstes Gesicht der kommunistischen Partei Indochinas (so der offizielle Name), trat also am 2. September, um kurz nach 2 Uhr (wegen Verkehrsstau) auf einem Podest vor die Menge. Gekleidet in einen Khaki-farbenen Anzug mit Stehkragen und weißen Gummi-Sandalen (Gummisandalen sind ohnehin bis heute der letzte Schrei in Vietnam und verdienen irgendwann mal einen eigenen Blog-Eintrag). Der Anzug war übrigens in letzter Sekunde geliehen. Ho machte sich normalerweise nicht viel aus Kleidung, war jedoch vor diesem Auftritt nach Aussage von Zeitzeugen ungewöhnlich nervös, und bat um einen angemessenen Anzug.

Die Unabhängigkeitserklärung begann er mit folgenden Worten:

„Alle Menschen wurden gleich erschaffen, sie wurden von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt, wozu Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehören.“

Der eine oder andere Leser mag sich jetzt verwundert die Augen reiben, weil ihm diese Zeilen bekannt vorkommen. Genauso wird es den vereinzelten Amerikanern gegangen sein, die damals 1945 unter den Anwesenden weilten. Die rieben sich allerdings dann wohl weniger die Augen, sondern eher die Ohren. Es ist nämlich der fast identische Anfang der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Ho Chi Minh zitierte noch weitere Menschenrechtserklärungen, darunter auch jene aus der Zeit der Französischen Revolution von 1791, zählte anschließend die aus seiner Sicht schlimmsten Verbrechen der französischen Kolonialherren auf, um anschließend zu schlussfolgern:

„Vietnam hat das Recht, Freiheit und Unabhängigkeit zu genießen, und ist in der Tat bereits ein freies und unabhängiges Land. Das gesamte vietnamesische Volk ist entschlossen, alle seine körperliche und geistige Stärke zu mobilisieren, sein Leben und Besitz zu opfern, um diese Freiheit und Unabhängigkeit zu schützen.“

Die Veranstaltung endete mit einer Vorstellung des damit nun offiziellen neuen Minister-Kabinetts, und einer Rezitation der Zuschauer der Unabhängigkeitserklärung. Als sich die Menge zerstreute, flogen einige US-Kampfflugzeuge über den Platz, woraufhin nach Angaben von Zeitzeugen offizielle Vietminh-Vertreter gesagt haben sollen: „Das sind unsere.“

Warum die gesamte vietnamesische Führung damals so gut auf die USA zu sprechen waren, müssen wir ein ander Mal klären. So viel sei gesagt: Amerika war damals einer der wenigen energischen Vertreter gegen Kolonialismus und für die Selbstbestimmung der Völker. Auf seiner oben erwähnten suchenden Reise hatte sich Ho Chi Minh zuerst in die USA begeben, in der Hoffnung auf Unterstützung. Echte Unterstützung fand er aber dann nur in Moskau. Das Verhältnis zu den USA blieb aber freundschaftlich, bis die Weltgeschichte einen Strich durch die Rechnung machte.

Und das war es schon. So schnell wird man unabhängig. Beziehungsweise, man wird es natürlich nicht, denn wie wir alle heute wissen, hängt eine Unabhängigkeit immer davon ab, ob einen andere Staaten weltweit anerkennen. Taiwan, Kosovo und Zypern lassen grüßen.

In der Tat sollte es nämlich noch bis 1954 dauern, bis die Franzosen endgültig aus Vietnam abzogen. Lenin mag sich in dem einen oder anderen geirrt haben. Mit seinem Einleitungssatz hatte er aber ohne jeden Zweifel recht.

5 Responses to Unabhängig!

  1. Dom says:

    @“Amerika war damals einer der wenigen energischen Vertreter gegen Kolonialismus und für die Selbstbestimmung der Völker.“

    Mag schon sein unter Wilson und nach WW I.
    Unter Präs. Truman nach (dem WW II.) lebte aber der koloniale Diskurs in weiten Teilen in dem (ethno/euro-zentrischen und herrschafts-foermigen) Entwicklungsdiskurs weiter, dazu aus der Truman-Rede 1949: „The United States is pre-eminent among nations in the development of industrial and scientific techniques.[…]And, in cooperation with other nations, we should foster capital investment in areas needing development…“ und der Weg wurde geebnet für die „Entwicklung/Eroberung“ der Dritten Welt (also weder zum „Westen“ noch zum „Osten“ gehörend)…im Dienste der „Entwicklung“ und all der damit verbundenen positiven wie negativen Folgen….
    vgl.
    Rist, Gilbert (1997):
    „The History of Development. From Western Origins to Global Faith.“

    PS: mal wieder toller beitrag(!!), werde nun wohl niemals mehr Gummisandalen anziehen können o h n e dabei an HCM denken zu müssen…. ;-)

  2. Linksaussen says:

    danke für den beitrag, ich freue mich schon auf die weiteren geschichtsartikel.

    ich stimme aber meinem vorredner teilweise zu: der 14-punkte-plan erlebte ja, kaum entstanden, mit den versailler und anderen vorortverträgen seine bankrotterklärung. symptomatisch, daß die usa dem aus dem programm entstandenen völkerbund nicht beitraten.

    45 zählte da eher die atlantik-charta (von 41), die uno waren ja schließlich auch schon gegründet. daß das selbstbestimmungsrecht der völker ganze mit der truman-doktrin von 47 dann eher zum mäntelchen des antikommunismus wurde, wird in den hier folgenden beiträgen sicher noch deutlich. aber genug mit dem historikergeschwafel.

    gibts irgendwo ein foto von ho chi minh mit den plastiksandalen? auf den üblichen, die man so findet, ist er immer nur hinter dem pult abgebildet oder oben abgeschnitten.

  3. admin says:

    Die Einwände sind berechtigt, allerdings ging es mir mehr darum, zu zeigen, dass die USA damals als eine der wenigen Großmächte ohne nennenswerte Kolonial-Bestrebungen einen gewissen positiven Ruf besaßen. Was gerade für Leser, die eher nur die „jüngeren“ US-Vietnam-Beziehungen kennen, vielleicht ein interessanter Hinweis sein mag.

    Und Wilsons 14-Punkte mögen je nach Ansicht eine Totgeburt gewesen sein, hatten aber ebenfalls enormen Einfluss auf zahlreiche Kolonien. Ho Chi Minh selbst (damals noch unter den Namen Nguyen Ai Quoc) hatte sich ja in seinen ersten Entwürfe und Petitionen auf Wilson berufen.

    Der US-Politik-Schwenk war auch nach außen (im Zeitalter von CNN und Internet) erstmal gar nicht so sichtbar. In der Tat gäbe es da aber noch eine ganze Menge zu erzählen, und der weitere Verlauf der Geschichte macht dann deutlich, dass die USA sich Europa wieder annäherten, weil der neue Gegner UdSSR hieß.

    Ich fürchte auch, dass es keine Fotos gibt. Ein Podest hat ja nunmal die unerwünschte (beziehungsweise erwünschte) Eigenschaft, dass der untere Teil des Körpers verdeckt wird. Er trug allerdings meines Wissens auch später immer wieder mal Sandalen. Vielleicht gibt es Aufnahmen zu anderen Zeitpunkten.

  4. Linksaussen says:

    okay, so gesehen war das im blogbeitrag nur mißverständlich formuliert: die usa haben schon eine andere politik verfolgt, aber ihr ruf war in der tat sehr gut, und das hatte seinen anfang mit den 14 punkten genommen.

  5. Dom says:

    Dazu auch der Entwicklungshilfe-Kritiker Gustavo Esteva aus mexikanischer Perspektive: FIESTA – jenseits von Entwicklung, Hilfe und Politik (1995, 138):

    „Wenig später verlor sich mein Land halt- und ziellos. Unter dem Banner der Unterentwicklung, wie sie von Truman am 20.Januar 1949 proklamiert wurde, bemächtigte sich der Mythos Entwicklung unserer Phantasie, und anstatt auf unserem selbstgewählten Weg weiterzugehen, versuchten wir die unbedingte Imitierung der Industriegesellschaften. Der American Way of Life wurde zu unserem neuen Traum. Dieselben Architekten, die sich noch 1937 gegen das Wachstum von Mexiko-Stadt stark gemacht hatten, schlugen gute zehn Jahre später Maßnahmen vor, die sich zum Ziel setzten, daß die Stadt so bald wie möglich fünf Millionen Einwohner habe.“

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