Oper als Geschichtslehrstunde

Ich gebe zu, als ich vor fast bald drei Jahren hier angekommen und kurz danach zum ersten Mal die Oper besucht habe, hätte ich nicht gedacht, irgendwann mal dort auf der Bühne zu stehen. Der Anblick ist vom Zuschauerraum aus schon atemberaubend genug. 1911 wurde das Haus von den Franzosen in Hanoi fertiggestellt, und es weist deutliche Ähnlichkeiten an die Opéra Garnier in Paris auf.

Damit war sie, nebenbei bemerkt, eines der letzten französischen Großbauprojekte Hanois. Eine ganze Reihe weiterer Gebäude, die heute das Stadtbild prägen, standen bereits: Die Kathedrale, die Hauptpost, das Rathaus, der Palast des Gouverneurs, der Dong Xuan-Markt (der deutliche Ähnlichkeiten zu Les Halles in Paris hat), und auch die Paul-Doumer-Brücke im Eiffelturm-Stil. Seit 1900 fuhr bereits eine Tram durch die Straßen, die später sogar vier Linien haben sollte (die, man muss es angesichts des heutigen Verkehrs sagen, leider nicht mehr da sind). Hanoi galt schon anfang der 1890er Jahre als „Paris des Ostens“ und „schönste Stadt Ostasiens“ – wobei letzterer Ausdruck von einem Franzosen stammt, also wohl nicht ganz objektiv zu werten ist. 70.000 Menschen lebten um die Jahrhundertwende in Hanoi, etwa 2000 davon waren Franzosen.

Der Bauplatz war vorher Sumpfland gewesen, deswegen ließen französische Ingenieure 30.000 Bambusstangen in die Erde treiben, um das Fundament zu tragen. Etwa 40 Jahre lang wurden hier Opern aufgeführt, die Saison war früher vor allem November und Dezember.

Und schließlich wurde die Oper sogar Mittelpunkt, oder sagen wir Schauplatz der Politik. Dazu müssen wir kurz ins Jahr 1945 springen, als am 14. August die Japaner kapitulierten, und dabei in allen japanisch-besetzten Gebieten in Asien ein Vakuum eintrat, das die vietnamesischen Kommunisten schließlich dazu nutzen sollten, die Herrschaft zu übernehmen und die Unabhängigkeit des Landes auszurufen.

Am 17. August 1945 trafen sich hier Parteien und Fraktionen die die zuvor frisch gegründete Übegangsregierung unterstützen wollten. Die Kommunisten waren nicht die einzigen gewesen, die in der Zeit der Franzosen eine Partei gegründet, und sich organisiert hatten. Zahlreiche andere Ideen schwirrten durch die Luft und hatten zur Gründung von größeren oder kleineren Gruppen geführt. Mit am populärsten waren die Anhänger der „Dai Viet“-Partei, einer durch Japan inspirierten nationalistischen Gruppierung, die Unabhängigkeit und Stärke forderte, aber auch der noch immer unter Gnaden der jeweiligen Machthaber (Franzosen oder Japaner) regierende Kaiser Bao Dai hatte Anhänger, die für eine parlamentarische Monarchie eintraten.

So in etwa muss man sich die Gemenelage in den Tagen nach der japanischen Kapitulation vorstellen. Es war nicht ganz klar, wer nun eigentlich die Macht hat, wo man hinwill, und wer dabei führen soll. Ich hatte dazu vergangenes Jahr schonmal einen Beitrag zur Augustrevolution geschrieben.

Formal lag die Macht zunächst zumindest in den Händen des Kaisers und seiner Regierung (die nach der Machtübernahme der Japaner gegründet worden war). Deren Premierminister Tran Trong Kim trat am 13. August freiwillig zurück, um Platz für eine Übegangsregierung zu machen, die den weiteren Weg beraten sollte.

Und damit zurück zum Schauplatz Oper: Vier Tage später versammelten sich also oben erwähnte Parteien in der Oper, um zu diskutieren. Vor der Oper wartete eine Menge von angeblich etwa 20.000 Menschen, die die Ergebnisse abwarten wollten, und sicherlich auch durch ihre Anwesenheit Einfluss auf die eine oder andere Partei ausüben wollten. Der Tag endete jedoch im Chaos, als militante Demonstranten das Gebäude stürmten, die Flagge des Kaisers vom Dach holten und stattdesen die Flagge hissten, die später die vietnamesische Nationalflagge sein sollte: Das rot-goldene Banner des Vietminh. Das war der Auftakt zur zwei Tage später folgenden Augustrevolution.

(Zum Vietminh an anderer Stelle mal später; es war, kurz gesagt, die von Ho Chi Minh gegründete „nationale Front“, unter der Parteien verschiedenster Art versammelt werden sollten. Ob das ein Deckmantel für den unzweifelhaft starken kommunistischen Einfluss war, oder ein echt gemeintes Angebot, darüber schreiben Gelehrte dicke Bücher, und möglicherweise werden sie nie zu einem Ergebnis kommen, denn dazu müsste wohl auch die Frage geklärt werden, ob Ho Chi Minh „mehr Nationalist“ oder „mehr Kommunist“ war.)

Genug Geschichte, reden wir von der Gegenwart.

Ich stand da jedenfalls gestern auf der Bühne, und von der Bühne aus sieht das Innere des Gebäudes noch beeindruckender aus, als vom Zuschauerraum. Wenn ich daran denke, nehme ich heute abend mal den Fotoapparat mit. Wer zufällig in Hanoi wohnt, der kann mich auch heute abend nochmal sehen, wie wir Rutters „Magnificat“ aufführen. Anschließend gibt es vietnamesische Ballett-Tänzerinnen, was ebenfalls sehr, sehr schön aussieht. Im Grunde muss man fast sagen, Vietnamesinnen sind wie geschaffen für Ballett, viele sind nämlich von Natur aus grazil, klein und leicht, und sehen im Gegensatz zu manchen europäischen Tänzerinnen wenigstens auf der Bühne nicht aus, als seien sie alle magersüchtig.

One Response to Oper als Geschichtslehrstunde

  1. GF says:

    Viel Spaß und Erfolg bei der Aufführung!

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