Staunend im Stau

Vietnamesischer Straßenverkehr ist von einer Anarchie, die einen auch nach sechs Monaten noch staunen lässt. Einerseits hat das völlige Fehlen jeglicher Regeln etwas sehr liebenswürdiges: Jeder rechnet ständig damit, dass irgend etwas Seltsames passieren könnte, und passt dementsprechend auf. Was dazu führt, dass man ohne Probleme gegen die Einbahnstraße fahren kann.

Was wiederum dazu führt, dass Einbahnstraßen nur auf dem Papier existieren.

Diese Verkehrsorganisation (eigentlich verbietet sich das Wort ja von selbst) hat jedoch einen Nachteil, der einen regelmäßig in die Verzweiflung treibt: Sie produziert Staus. En masse.

Vietnamesen sind der Meinung, dass ein Verkehrsstau dazu berechtigt, sämtliche möglichen Auswege zu benutzen. Das schließt im Normalfall vor allem Bürgersteige mit ein. Es gilt hier als völlig akzeptierte Regel, dass ein Stau auf der Straße quasi amtlich Bürgersteige in Ausweichstraßen verwandelt. Dabei wird dann „Stau“ sehr großzügig interpretiert: Auch eine rote Ampel gilt als „Stau“.

Gestern* also dann: Eine normale, einspurige Straße in Hanoi. Wegen zwei großer Fahrzeuge, die sich gerade an einer Stelle begegnen, an der gerade zwei Straßenkehrerfrauen mit ihren großen Straßenkehrerwagen vorbeilaufen, kommt es kurzfristig zu „Verkehrsbehinderungen“. Es bildet sich also eine Schlange hinter einem der Fahrzeuge.

Da an dieser Straße kein Bürgersteig existiert, nehmen die ersten Vietnamesen diese Tatsache zum Anlass, um auf die Gegenfahrbahn auszuweichen. Sie fahren also mit ihren Mopeds bis zu der Stelle, an der die beiden großen Fahrzeuge (ein Bus und ein Lastwagen) gerade um die Straßenkehrerinnen herum rangieren, und freuen sich, dass sie auf diese Weise zwanzig Meter weiter nach vorne gekommen sind.

Und blockieren damit sowohl die Straßenkehrerinnen als auch die Fahrzeuge.

Was weitere Mopedfahrer zum Anlass nehmen, um sich hinter den anderen einzureihen und die Gegenfahrbahn zu besetzen. Das Ganze wird dann noch mit sehr viel Gehupe garniert um die Fahrer vorne darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht weitergeht.**

Da auch anschließend das Prinzip gilt: Jeder schaut nach sich selbst, ist der Stau für die nächste Stunde programmiert. Wer es als Mopedfahrer schafft, möglichst gerissen und raffiniert irgendwo eine Lücke zu finden (und dabei die Lastwagen am besten noch weiter zu blockieren, denn die stören ja nur), ist als erster wieder draußen.

Was dann jeden von der überlegenen Strategie dieses Vorgehens überzeugt. Europäer, so denken hier die meisten,*** stünden vermutlich zehn Stunden im Stau, weil sie einfach nicht so schlau sind, und die richtigen Lücken finden.

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* Dass es gestern passierte, ist eigentlich ohne Zusammenhang. Es passiert ganz ohne Zweifel jeden Tag. Es fiel mir nur gestern wieder auf. Und ich habe den Fehler gemacht, zwischen 5 und 8 Uhr abends auf der Straße zu sein.

** Nur für den Fall, dass diese es noch nicht selbst gemerkt hätten. Man will ja höflich sein.

*** Das ist eine Annahme. Vielleicht denken sie auch gar nicht.

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