Macht, Gesetz und Brauchtum

„Die Macht des Königs endet am Dorftor“ oder „Das Gesetz des Königs beugt sich dem Brauchtum des Dorfes“ sind bekannte Sinnsprüche, die die Sonderstellung des vietnamesischen Dorfes betonen sollen. Das Dorf hatte und hat für viele Vietnamesen einen hohen symbolischen Charakter in der Geschichte des Landes. Es steht für Eigenständigkeit, Besonderheit, für die Seele Vietnams.

Allein, die Sinnsprüche stimmen nicht. Sie mögen zu gewissen Zeiten einen wahren Kern gehabt haben, oder sind vielleicht auch nur einfach Ausdruck eines entsprechenden Anspruchs. Nüchtern wissenschaftlich gesehen aber endete die Macht des Königs meist nicht am Dorftor, sondern erstreckte sich bis weit in das Dorf hinein.

Bereits im 11. Jahrhundert begann die Ly-Dynastie damit, das Land in den Dörfern in Register einzutragen. 300 Jahre später vereinnahmte der Staat dann die gemeinschaftlich genutzten Ackerflächen im Dorf als öffentliches Land des Königs. Der König konnte fortan dieses Land selbst nach eigenem Willen verteilen, zum Beispiel an im Dorf arbeitende Staatsbeamte. Im 15. Jahrhundert schließlich kamen dezidierte Steuergesetze für Landbesitz hinzu. Das „Dorf“ an sich verlor weiter an Einfluss durch das verstärkte Aufkommen der Idee von „Privatland“. Im 19. Jahrhundert zeigen Akten, dass privates Land sogar längst zur Norm geworden ist. Etwa 80 Prozent der Ackerflächen lagen da in Privatbesitz.

Ähnlich gemischt sieht die Bilanz in der Verwaltung der Dorfangelegenheiten aus. Neben der lang existierenden Institution des Ältestenrats, der von Dorfbewohnern bestimmt wurde, kamen in späteren Jahrhunderten Dorfoberhäupter dazu. Diese durften zwar ebenfalls von den Einwohnern gewählt werden, wurden aber anschließend von einem Provinzbeamten abgesegnet, und erhielten ein offizielles königliches Siegel als Zeichen ihrer Macht. Damit gab es zwei Machtzentren im Dorf (den Rat und das Oberhaupt), deren Befugnisse nicht immer ganz eindeutig geklärt waren. Den Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung im 19. Jahrhundert unter den Nguyen-Dynastie, die (auch deswegen) zeitweise ein äußerst miserables Steueraufkommen erreichte.

Die französischen Kolonialherren versuchten anschließend genau diese Entwicklung wieder ins Ruder zu bekommen. Sie verstanden schnell, dass der Kampf um eine funktionierende Verwaltung in Vietnam nur über das Dorf gewonnen werden konnte – und ersetzten den Ältestenrat durch ein neues Gremium. Leider erreichten sie damit langfristig nur, dass eine Zeitlang beide Gremien existierten, weil der Ältestenrat gar nicht daran dachte, sich abschaffen zu lassen.

Nachdem die Kommunistische Partei 1945 die Macht übernommen hatte, stand sie vor genau demselben Problem. Und scheiterte ebenfalls. Die von der Partei eingeführten neuen Regeln über Kollektivarbeit und gemeinschaftlich genutztes Land führten sehr schnell in eine wirtschaftliche Krise und veranlassten die Bauern dazu, unter der Hand das Land sehr wohl an Arbeiter zu verpachten (und so deutlich bessere Erträge zu erzielen). Ein Ansatz, der mit dem Beginn der Doi-Moi-Reformen dann offiziell legalisiert wurde. Das Gesetz der Partei beugte sich in diesem Fall also tatsächlich dem Brauchtum des Dorfes.

Quelle: Phan Huy Le: „Research on the Vietnamese Village. Assessment and Perspectives. In: Viet Nam. Borderless Histories. Ed. by Nhung Tuyet Tran & Anthony Reid. University of Wisconsin Press. 2006.“

One Response to Macht, Gesetz und Brauchtum

  1. yeuem says:

    sehr interessanter Aspekt oder Vertrag
    ich glaub nach der 4. oder 5. Lesung bin schlauer
    vielleicht nach der 10. Lesung hab dann alle Details
    im Hinterkopf abgespeichert

    Kopf auf den Nagel getroffen
    sollte man da sagen wohl

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