Vietnam, Internetland

Ich bin über einen Artikel im „Journal of Current Southeast Asian Affairs“ gestolpert, der zwar zwei Jahre alt ist, aber eine für mich beeindruckende Tabelle enthält: Laut dem Nielsen-Report von 2011 nutzten zu dieser Zeit in Vietnam 56 Prozent der Bevölkerung das Internet. Verglichen mit anderen südostasiatischen Staaten ist das der zweithöchste Wert hinter dem Industriestadtstaat Singapur. Länder mit einem deutlich höheren Durchschnittseinkommen wie Thailand oder Malaysia kommen in dieser Erhebung jeweils nur auf etwa 30 Prozent Internetnutzer.

Heruntergebrochen auf Altersgruppen kommt der Nielsen-Report bei den Unter-20-Jährigen in Vietnam sogar auf 92 Prozent Internetnutzer, selbst in der Gruppe der bis zu 50-Jährigen sind es noch stramme knapp 30 Prozent.

Von diesen Internetnutzern in Vietnam geben weiterhin über 60 Prozent an, dass sie das Internet „täglich“ nutzen, weitere 30 Prozent nutzen es „mindestens mehrmals die Woche“. Auch das sind im Vergleich mit den anderen fünf südostasiatischen Ländern Spitzenwerte, die an Singapur heranreichen. In Thailand zum Beispiel ist die Situation komplett umgedreht: Hier gaben nur etwa ein Drittel an, das Internet „täglich“ zu nutzen, zwei Drittel nutzen es „mehrmals die Woche“.

Über die Gründe kann ich nur spekulieren, allerdings unterstreichen die Zahlen auf ziemlich beeindruckende Weise wie internetverrückt die Vietnamesen sind. Sie erreichen gleichzeitig auch Spitzenwerte in der Frage, was genau man denn nun mit seiner Internetzeit so alles anstelle: 90 Prozent der vietnamesischen Internetnutzer gaben hier an, dass sie „Online-Nachrichten“ lesen. Offen gestanden eine Zahl, die ich nicht ganz glauben kann, wenn ich mir den Konsum so rundherum anschaue, wobei natürlich die Frage ist, wie genau man „Online-Nachrichten“ definiert, und was genau wiederum „anschauen“ heißt (es könnte ja auch heißen, kurz draufzuschauen, und dann sofort den Link über das neueste Celebrity-Gerücht anzuklicken).

Ein weiterer regionaler Vergleich ist interessant: 75 Prozent der vietnamesischen Haushalte nutzen laut Nielsen-Report von 2011 einen Desktop – aber nur etwa 30 Prozent haben ein internetfähiges Mobiltelefon. Das wiederum ist der komplette Gegensatz zu Indonesien, wo nur 30 Prozent einen Computer zu Hause herum stehen haben, aber satte 78 Prozent ein internetfähiges Telefon und sogar 40 Prozent ein Smartphone. Wie gesagt: Die Zahlen sind von 2011 (möglicherweise speisen sie sich sogar aus Umfragen, die im Jahr zuvor gemacht worden waren), sind also nicht mehr aktuell. Gefühlt würde ich sagen dass die Zahl der Smartphones in Vietnam in den vergangenen drei Jahren sicherlich deutlich angestiegen ist. Der Trend ist allerdings trotzdem ersichtlich, gerade im regionalen Vergleich: Vietnam hat offenbar noch eine vergleichsweise große Anzahl von Computern in häuslichen Wohnungen herumstehen.

Der Artikel räumt übrigens auch gleich mit einem Vorurteil auf: Dass die Nutzung von Internet und Social Media automatisch dazu führe, dass die Bevölkerung mehr politische Mitsprache fordere. Das sei weder in Vietnam noch in anderen südostasiatischen Ländern zu belegen, schreibt Autor Jason Abbott. Allerdings wirft er in den Raum, dass das Internet selbstverständlich und ganz automatisch das Informationsmonopol der Regierenden breche. In diesem Zusammenhang gibt es eine durchaus bemerkenswerte Überlegung: Es ist für Regierungen relativ einfach, bestimmte Kanäle, Plattformen oder Programme zu verbieten, die ausschließlich politisch genutzt werden. Hier kann man sich als Machthaber problemlos Argumente einfallen lassen, warum solche Werkzeuge potentiell gefährlich, schädlich oder autoritätsuntergrabend sind. Ganz anders ist es, wenn es darum geht, Plattformen zu unterbinden, die überwiegend unpolitisch genutzt werden. Der Internetaktivist Ethan Zuckerman hat das die „Cute Cat Theory“ genannt: Wenn Staaten anfangen, Seiten zu sperren, auf denen unpolitische User im Grunde überwiegend nur süße Katzenbilder anschauen wollen, riskieren sie, selbst diese eigentlich unpolitische Masse gegen sich aufzubringen.

Außerdem, argumentiert Zuckerman, mache der Staat durch solche Zensuranstrengungen automatisch eine größere Anzahl an Personen zu potentiellen „Dissidenten“. Nicht im eigentlichen, klassischen Sinn – aber zumindest durch die simple Tatsache, dass plötzlich mehr oder weniger unpolitische Bürger nach Möglichkeiten suchen, um Netzsperren zu umgehen – nur, um wieder auf Facebook mit Freunden Belanglosigkeiten austauschen zu können. Letzteres zumindest darf ich aus Vietnam vollends bestätigen: In der etwa zweijährigen Zeit der erschwerten Erreichbarkeit von Facebook wusste anscheinend jeder Vietnamese irgendwie, wie man DNS-Adressen ändert oder sich anderweitig Zugang zu Facebook verschafft. Meist ging es dann darum, endlich wieder Farmville spielen zu können. Zugegeben, überwiegend hatten nach meiner Beobachtung die meisten Nutzer keine Ahnung, was genau sie da taten. Aber trotzdem wussten erstaunlich viele, in welche Eingabefelder der Systemsteuerung sie was genau tippen mussten – vermutlich mehr, als die durchschnittlichen deutschen Facebook-User.

Das stellt dann auch den allgemeinen Vorwurf unter ein ganz neues Licht, Internetnutzer seien generell unpolitisch und surften ohnehin nur auf belanglosen Seiten herum (mal abgesehen von den Vietnamesen, die ja angeblich zu 90 Prozent Nachrichten lesen): Süße Katzen zu suchen wird damit hochpolitisch – weil es anderen Internetaktivisten einen Schutzmantel bietet, ihre politischen Nachrichten zu verbreiten.

Den kompletten Artikel gibt es übrigens als PDF hier.

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