Das unwahrscheinliche Land

Ich lese gerade ein Buch des amerikanischen Politik-Professors Brantly Womack, auf das ich sicherlich noch ein paarmal zu sprechen kommen werde. Es handelt nämlich von dem Verhältnis zwischen Vietnam und China, und deren gemeinsamer Geschichte. Ein wenig technisch-wissenschaftlich geschrieben, aber insgesamt bislang sehr zu empfehlen.

Aber dazu ein ander Mal. Heute geht es nur um einen Satz, der mir bei der geographischen Beschreibung auffiel. Womack schlussfolgert nämlich: Geographisch gesehen ist Vietnam möglicherweise das seltsamste Land der Erde.

Was er meint, sind die Landesumrisse. Bekanntlich ist Vietnam so um die 1700 Kilometer lang, und an der engsten Stelle nur 50 Kilometer breit. Oder, wie Womack es sagt: „Für die meisten Länder wäre schon allein der Begriff ‚engste Stelle‘ eine völlig überflüssige Kategorie.“ Chile spielt natürlich in derselben Liga, Chile ist sogar noch langgestreckter, aber in Chile lebt wenigstens der Großteil der Bevölkerung in der relativ zentral gelegenen Hauptstadt, und der Rest verteilt sich irgendwo.

Vietnam schafft es, als Staat zu existieren, obwohl 50 Prozent der Bevölkerung sich auf ein paar Provinzen im Norden und im extremen Süden verteilen und dazwischen ein langer Schlauch fast ohne größere Städte ist. Demographisch gesehen sicherlich ein Unikat.

Die Vietnamesen nennen dieses Phänomen übrigens liebevoll „die Reistrage“, so wie die typisch vietnamesischen Frauen mit ihren Reistragen und den Körben auf beiden Seiten durch die Stadt marschieren. (Die beiden Flussdeltas mit den beiden Millionenmetropolen symbolisieren je einen Reiskorb, und das Mittelland ist die Tragestange dazwischen.) Das ist sehr poetisch und natürlich auch sehr passend. Andere Länder haben sowas übrigens auch. Finnland nennt seine Grenzumrisse „die Dame“ und erkennt darin eine Dame mit Rock und einem Arm. Den anderen Arm und den Großteil des Rocks haben allerdings die Russen geklaut. Frankreich hat ja wenigstens noch sein „Hexagon“.

Deutschland hat da gar nichts. Wenn ich an eine möglichst bildliche Umschreibung der Umrisse vonDeutschland denke, fällt mir immer nur die Karikatur in meinem Schul-Sozialkundebuch ein, auf der ein Helmut-Kohl-Gesicht (Bayern ist das Kinn, Hessen die Nase und Schleswig der Haarschopf) Ostdeutschland auffrisst.

Poetisch kann man das natürlich nicht nennen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert