Deutsche Tonalsprache

Dass Vietnamesische eine sogenannte Tonalsprache ist, hat sich vermutlich mittlerweile herumgesprochen. „Sua“ (geschrieben: d?a) ist die Melone, „súa“ (mit steigendem Ton) die Ananas und „sùa“ (mit fallendem Ton) die Kokosnuss. Und „ß?a“ (gesprochen mit scharfem S, geschrieben s?a) ist zu allem Überfluss die Milch. Für Vietnamesen ist das alles ein Unterschied wie Tag und Nacht, vor allem die Milch, aber für die meisten Ausländer, die die Sprache lernen, ist es der blanke Horror. Das Tonalzeichen der Tilde „~“ (wie auf der Milch) ist dabei ein besonders ekliger Ton, weil er nicht nur einfach nach oben oder nach unten geht, sondern erst runter und dann hoch, mit einem Knacklaut dazwischen. Das soll mal erstmal jemand auf einer einzigen Silbe schaffen.

Die beliebte Klage der Europäer lautet dann: Vietnamesisch ist schwer, „wegen dieser vielen Töne, die die da benutzen“.

Was wenigen Europäern auffällt: Auch europäische Sprachen benutzen Töne. Sogar sehr häufig und sehr entscheidend. Ein beliebiger deutscher Satz wie „Oma im Haus“ klingt nicht nur völlig anders, sondern hat auch eine völlig andere Bedeutung, wenn „Haus“ einen steigenden Ton verpasst bekommt: „Oma im Haus?“ Wenn „Oma“ dagegen einen fallenden Ton erhält, entspricht das einer Betonung: „OMA im Haus.“

Anders gesagt: Wo die Asiaten ihre Worte mit Tönen versehen, um andere Bedeutungen zu erhalten, setzen die Europäer Töne auf ihre Worte, um grammatische Unterschiede kenntlich zu machen. Eine Frage geht im Vietnamesischen eben nicht am Ende in die Höhe (sonst macht man im Zweifelsfall aus der Kokosnuss eine Ananas), sondern wird mit dem Frage-Partikel „khòng“ versehen – das als Wort, im Gegenteil sogar nach unten geht. Ebenfalls recht gewöhungsbedürftig.

Dass das deutsche System wiederum kein Spaziergang ist, merkt man spätestens dann, wenn Asiaten Deutsch sprechen wollen. Sobald sie sich in der Betonung des Satzes irren, sind sie oft schwieriger zu verstehen, ohne dass der deutsche Gesprächspartner meist selbst versteht, warum er gerade nichts versteht. Denn wir pflegen auf diese Betonungen nicht zu achten, sie kommen quasi von selbst. Ähnlich muss man sich das sicherlich vorstellen, wenn Ausländer vor ratlosen Vietnamesen ausrasten in der Überzeugung: „Aber ich habe doch das richtige Wort gesagt, wieso versteht der mich nicht, der muss doch wissen, dass d?a und d?a ähnlich klingen!“ Nein, das tun sie eben aus vietnamesicher Sicht nicht.

Vergangene Woche fiel mir jetzt zum ersten Mal auf, dass es im Deutschen sogar Worte gibt, die exakt gleich sind, aber durch verschiedene Betonung eine andere Bedeutung erhalten.

Nehmen wir mal die Männergesangsstimme, den Tenor. Sieht ja auf den ersten Blick ganz harmlos und einfach aus. Wie ist es aber mit dem folgenden Satz: „Der Tenor sprach in dem Tenor, dass er so etwas noch nie erlebt habe.“ Fällt jemandem etwas auf? Das erste Wort wird TeNOR betont, das zweite hingegen TEnor. Zwei komplett unterschiedliche Wörter. Wenn ich beide mit „TeNOR“ betone, kapiert kein normaler Mensch, was ich gerade sagen will.

Oder wie wäre es hiermit: „Es ist Hochzeit für Hochzeiten.“

Es ist natürlich HOCHzeit für HochZEITen. Nicht etwa HochZEIT für HOCHzeiten. Obwohl hohe Zeiten natürlich auch heiraten könnten. In irgend einem abstrakt-philosophischen Sinn jedenfalls.

Das mit den Hochzeiten und der verschiedenen Betonung war mir zumindest passiv schon länger bewusst, über den Tenor und den Tenor habe ich noch nie in meinem Leben nachgedacht, bis ich jetzt mit der Nase drauf gestoßen wurde. Ähnliche Fallen gibt es im Deutschen noch zahlreiche weitere, auch wenn die meisten falschen Betonungen vermutlich nur Verwirrung stiften, und wenigstens nicht zu semantischen Unterschieden führen. Wieso wird der Juwelier auf dem IER betont, aber der Kanadier auf dem NA? Und würden wir einen Ausländer verstehen, der uns etwas vom KanaDIER erzählt, oder würden wir glauben, er meint irgend ein seltenes Tier? Oder man nehme die wunderschönen Wörter „Urin“ und „Urinszenierung“.

Bevor Vietnamesisch lernende Ausländer also das nächste Mal über das Unverständnis der Vietnamesen ausrasten, lohnt es sich vielleicht, darüber nachzudenken, welche Fallstricke unsere eigenen Sprachen so bieten. Und die schlimmsten Fallstricke sind dabei solche, denen wir uns gar nicht bewusst sind.

6 Responses to Deutsche Tonalsprache

  1. Benem says:

    Tatsaechlich in Thailand die selbe Situation: 5 Toene.
    Wenn man eine so fremde Sprache lernt, bekommt man auch gleich eine ganz neue Sicht auf die eigene und lernt gleich auch was ueber das Leben und die unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener Menschen mit.

    In Thai uebrigens sehr schoen das „glai: weit weg und „GLai“ nah dran bedeutet.

    Schoen, oder?

    Ben

  2. Martin says:

    Sprache, Aussprachen und Schreibweise ist schon eine interessante Sache ;)

    Der Fall Hochzeit und Tenor ist schon merkwürdig. Für mich hier auch noch eindeutig ein Mangel an der Schreibweise hinzu. Die unterschiedliche Aussprache des Geschriebenen hat einfach keine logische Erklärung. Eigentlich müssten wir Ténor und Tenór schreiben. Hier haben wir also nicht nur die selben Laute mit unterschiedlicher Betonung, sondern auch noch eine nicht eindeutige Schreibweise ;) … hier hilft wirklich nur noch der Kontext weiter.

    Der Fall der Oma ist für mich schon eher Level 2. Grammatikalisch ist der Satz falsch bzw. unvollständig und wohl eher als Umgangssprache zu verstehen. Aber selbst mit einem Verb an der richtigen Stelle, ist der Fall nicht klar. Ein Fragezeichen macht zwar die Betonung klar, trotzdem ändert allein die Betonung den Satz von einer Feststellung zu einer Frage.

    Aber das Ganze mit der Aussprache und dem Verstehen kann man ja noch weiter spinnen. Probleme beim Verstehen haben wir ja innerhalb der selben Sprache. In China verstehen sich die Chinesen ja selbst nicht … und wenn ich jemanden aus Oberbayern höre, dann kapituliere ich selbst … oder … ich werde es nie vergessen, wie ich in Köln einen Halven Hahn bestellt habe und fest davon überzeugt war, ein halbes Hühnchen zu bekommen ;)

    Hinzu kommen bei allen Sprachen die Probleme der „Uebergaenge“:

    – vom Gemeinten zum Manifestierten: wie genau kann ich etwas manifestieren
    – vom Geschriebenen zum Gesprochenen: wie eindeutig ist die Schreibweise

    und wahrscheinlich noch vieles mehr … nicht umsonst ist wohl jede Sprache eine Wissenschaft fuer sich ;)

  3. GF says:

    Was ist denn ein Halver Hahn? Ich hätte auch ein halbes Hähnchen vermutet. Jetzt bin ich neugierig. :-)

  4. Martin says:

    „Halver Hahn ist der rheinische Ausdruck für ein Roggenbrötchen mit Käse. Das Brötchen (ein halbes Röggelchen) wird in der Regel mit Butter, ein bis zwei dicken Scheiben mittelalten Gouda-Käses und mit saurer Gurke und Senf, zum Teil auch mit in Ringe geschnittenen Zwiebeln und einer Prise Paprikapulver serviert. Das Gericht ist in rheinischen Kneipen und Gaststätten weit verbreitet. Um die Entstehung des Namens (Hochdeutsch: halber Hahn) ranken sich viele Legenden.“

    – Wikipedia –

  5. Tu says:

    kannst du mal diesen Satz deutlich auf vietnamesisch aussprechen? ;) (fuer viele Auslaender ist es auch ja schwer. :P )
    “ Th? t?, Tú th? t? t? t? t? “ (Am Mittwoch versucht Tu, sich langsam zu toeten.)

  6. Linksaussen says:

    @Tu: Vielen Dank für diesen Satz, hab ihn gestern von meinen Schwiegereltern vorlesen lassen, die sich dabei selber köstlich amüsiert haben. Ein neuer Merksatz, um die schwierige Aussprache im Vietnamesischen zu demonstrieren. Auch schön: „Zehn Mücken setzen sich auf meine neue salzige Nase“. Oder so ähnlich. Auf vietnamesisch kann ich den nicht mal richtig ausschreiben, geschweige denn -sprechen.

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