Die schreckliche Nachricht der Woche lautet: Vietnam will die Schildkröten im Literaturtempel mit einer Glas- oder Holzbarriere versehen. Das ist eine der Maßnahmen, mit der derzeit der Literaturtempel fit gemacht werden soll für die 1000-Jahr-Feiern von Hanoi. Schließlich ist das riesige Gelände, das mal vor vielen Jahrhunderten außerhalb der Stadt lag nicht nur Wahrzeichen, sondern vielleicht auch das einzige echte Großmonument, das Hanoi zu bieten hat. Man konnte in den vergangenen Wochen schon so einige „Verschönerungsmaßnahmen“ beobachten, unter anderem frischen Beton auf die alten Wände, damit alles wieder richtig schön aussieht. Wie immer man schön definiert.
Jetzt also eine Barriere um die Steinschildkröten herum. Die Schildkröten tragen auf ihrem Rücken die Namen all jener, die hier vor mehreren hundert Jahren den Doktortitel abgelegt haben, die höchste Ehre der Nation, und die Eintrittskarte in die nationale Beamtenschaft als „Mandarin“. Vietnam etablierte damit bereits im 12. Jahrhundert etwas, das Europa erst mehrere Jahrhunderte später einführen sollte: Eine Bürokratie, eine „Herrschaft der Fähigen“, bei der die Regierungsverwalter nicht nach ihrer Abstammung, sondern nach ihrem Wissen ausgewählt wurden (auch wenn da bei genauerem Hinsehen auch Wunsch und Wirklichkeit auseinander klafften, aber das war bei der griechischen Demokratie schließlich auch der Fall).
Nun muss man wissen, dass die Schildkröten noch heute begehrtes Besuchsziel der Vietnamesen sind. Wer die Schildkröte streichelt, auf den wird zumindest ein Teil des Intellekts der Doktoren übergehen, heißt es. Oder über den werden die Doktoren bei der nächsten Prüfung wachen. So genau ist das nicht festgelegt, es lässt sich schließlich nicht nachprüfen. Fest steht aber: „Ohne Besuch bei der Schildkröte kein Glück in der Schule.“ Jedes Jahr stürmen kurz vor den Examen hunderte bis tausende Studenten das Gelände um die Köpfe zu streicheln.
Dadurch sehen die Schildkröten nun auch etwas abgegrabbelt aus.
Ich kann mir schlecht vorstellen, dass eine Frau zu ihrem Mann sagt: „Du, lass uns mal nach Vietnam reisen, da gibt es Schrifttafeln, die zum Weltdokumentenerbe gehören.“ Vietnamesen, oder zumindest vietnamesische Behörden erscheinen mir in diesem Sinne nicht zum ersten Mal unglaublich titelhörig. Titel sind was ganz wichtiges, Titel sind immer gut und Titel sind aus der Sicht derer, die den ganzen Tag am Schreibtisch hocken, die beste Werbung. Aber gut. Kann natürlich auch sein, dass die ganze Sache mit der Titelvergabe nach hinten losgegangen ist, und die Unesco den Schutz der Tafeln nun zur Bedinung macht.
Nun, man denke das mal weiter, wenn jetzt tatsächlich der Zaun oder der Glaskasten kommen soll: Kein Student darf mehr die Schildkröten berühren. Vietnams Bildungswesen wird zwangsläufig den Bach herunter gehen. Vielleicht sollten sich das die Verantwortlichen nochmal dringend überlegen. Oder vielleicht kommt am Ende das dabei raus, was gerne mal bei vietnamesischen Plänen und Reglementierungen herauskommt: Am Ende bleibt doch alles wie es ist, oder es hält sich mal wieder niemand dran.