Der chinesische Richtungsschwenk

Wir schreiben den August 1969, und der chinesische Parteivorsitzende Mao Zedong stellt folgende Überlegung an: „Im Norden und Westen liegt die Sowjetunion, im Süden liegt Indien, und im Osten liegt Japan. Sollten sich alle diese Feinde verbünden, was dann? Aber haben nicht schon unsere Vorfahren uns geraten, mit weit entfernten Ländern zu verhandeln, um jene zu bekämpfen, die uns nahe liegen?“.

Das Zitat unterstreicht einen der überraschendsten Richtungswechsel der chinesischen Außenpolitik: China begann sich bekanntlich den USA zuzuwenden, und spätestens 1971 änderte sich mit der „Ping-Pong-Diplomatie“ zwischen China und Amerika plötzlich die gesamte geostrategische Landschaft in Asien.

Was die Vietnamesen darüber dachten? Die meisten vietnamesischen Politiker fühlten sich unweigerlich an 1954 erinnert, an die Genfer Verhandlungen nach der französischen Niederlage von Dien Bien Phu, als China seine Beziehungen zum Westen über ein erfolgreiches Verhandlungsergebnis für Vietnam stellte. Damals stimmte Vietnam der vorläufigen Teilung des Landes zwischen Nord und Süd zu, auch unter dem Druck der chinesischen Delegation. Denn auch der Richtungsschwenk 1971 hatte zur Auswirkung, dass China nun die vietnamesische Regierung in Hanoi dazu drängte, Verhandlungen mit Nixon aufzunehmen. Vordergründig verurteilte die chinesische Führung zwar weiterhin den Vietnamkrieg aufs Schärfste, hinter den Kulissen aber übten chinesische Gesandte Druck auf Hanoi aus, wie wir heute dank chinesischer Akten wissen.

Ein vereinigtes, starkes Vietnam erschien der chinesischen Partei nun gar nicht mehr so erstrebenswert, alle möglichen Gründe sprachen auf einmal dagegen: Dass die Sowjetunion so heftig um Vietnam warb, und damit die „Umklammerung“ Chinas perfekt machen könnte zum Beispiel. Oder auch die Ereignisse in Kambodscha, wo sich unter Pol Pot die Möglichkeit eines chinafreundlichen Regimes herausschälte.

Von diesen internen strategischen Überlegungen konnten die vietnamesischen Politiker wohl nur ahnen, aber der chinesische Richtungswechsel war trotzdem nicht zu übersehen. Schließlich hatte es, ironischerweise, 1968 noch genau umgekehrt ausgesehen: Vietnam hatte nach der Tet-Offensive Verhandlungen mit Washington aufgenommen – und die Chinesen hatten erzürnt reagiert. Schon die Tet-Offensive selbst war in Peking auf Misstrauen gestoßen, der vietnamesische Großangriff wurde als Abkehr von der „chinesischen Kriegsstrategie“ interpretiert, nämlich dem Kampf um die Dörfer, hin zu einer „sowjetischen Strategie“, einem Frontalangriff auf die Städte mit schwerem (= sowjetischem) Kriegsgerät.

Der chinesische Gesandte Zhou Enlai giftete also gegenüber den Vietnamesen: „Die sowjetischen Revisionisten glauben, es sei falsch, über das Land die Städte zu umzingeln, sie glauben, nur Blitzangriffe auf große Städte bringen den Sieg. Wenn ihr das tut, werden sich die USA freuen, weil sie große Gegenoffensiven starten können.“ Chinas Haltung: Keine Angriffe auf die Städte, und erst recht keine Verhandlungen mit dem Feind. Die Vietnamesen sollten gefälligst weiter durchhalten. Leicht gesagt für ein Land, das zwar 300.000 Mann an Unterstützungstruppen gesandt hatte (vor allem Ingenieure, Flugabwehr und militärische Berater), aber nicht selbst die Bombardements ertragen musste. Dementsprechend gereizt reagierten auch die Vietnamesen. „Wir sind diejenigen, die kämpfen und siegen“, sagte Pham Van Dong, und Le Duc Tho erklärte: „Lasst die Realität entscheiden.“

China begann daraufhin, die Militärunterstützung zu kürzen: 1970 verließen mit einem Kontingent chinesischer Eisenbahningenieure die letzten chinesischen Truppen Nordvietnam. Die Waffenlieferungen wurden drastisch reduziert. 1970 lieferte China nur noch 100.000 Gewehre (die Hälfte im Vergleich zu vorher), und nur noch 400.000 Mörsergranaten (ein Fünftel der zuvor gelieferten zwei Millionen pro Jahr).

Kaum verwunderlich also, dass Vietnam die neuen chinesischen „Ratschläge“ 1971/72 erstaunt zur Kenntnis nahm, und die vietnamesischen Politiker nur zu einem Schluss kommen konnten: Unser „großer Bruder“ lässt uns mal wieder im Stich. Das Misstrauen sinkt auf den vorläufigen Tiefpunkt und führt von dort aus in gerade Linie weiter zu den Verwicklungen von 1979 und dem vietnamesisch-chinesischen Krieg. Was die Vietnamesen übrigens nicht daran hindert, noch mal für die letzten Kriegsjahre gegen die Amerikaner den Chinesen so viele Waffenlieferungen wie möglich aus den Rippen zu leiern: 1973 kommen wieder 200.000 Gewehre und zwei Millionen Mörsergranate an. Vietnam sieht das allerdings nicht als echte Unterstützung, sondern als Eingeständnis der schlechten Gewissens.

Übrigens hatte Mao zwar recht damit, dass es eine alte chinesische Tradition ist, mit den Nachbarn der direkten Feinde zu verhandeln. Allerdings übersah er dabei zwei relativ auffällige Fehlschläge: 1120 schloss die Song-Dynastie ein Bündnis mit den Jurchen-Stämmen gegen das benachbarte Großreich Khitan – nur um kurze Zeit später, nachdem Khitan gefallen war, den gesamten nördlichen Teil ihres Reiches an die Jurchen zu verlieren. Und hundert Jahre später, 1233, verbündeten sich die Song, die offenbar nichts aus der Vergangenheit gelernt hatten, mit einem neuen Verbündeten gegen eben diese Jurchen. Dieses „neue Volk“ waren… die Mongolen.

Kurze Zeit später war die Song-Dynastie Geschichte. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, die großen entfernten Nachbarn zur Hilfe zu rufen…

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