Der Drache und die Fee

Die Legende über die Entstehung der Vietnamesen bekommen ausländische Touristen oft so zu hören: Ein Drache und eine Fee brachten zusammen einen Sack mit 100 Eiern auf die Welt. Aus den daraus entstandenden Kindern folgten 50 dem Drachen in das Meer und 50 der Fee in die Berge. Das war der Anfang der Vietnamesen, die sowohl an der Küste als auch in den Bergen leben.

Die Legende von Au Co, jener besagten Mutter der Vietnamesen, ist in Wirklichkeit etwas komplizierter. „Au Co“ ist übrigens auch jedem Hanoier ein Begriff, so heißt nämlich die große Deichstraße, die nach Norden hinaus an den Westsee führt, wo die Ausländervillen stehen.

Fangen wir mit dem Drachen an. Der Drache war genauer gesagt ein „Drachenherr“, ein mythischer Held, der in das Land kam, in dem die Vorfahren der Vietnamesen damals wohnten. Er brachte ihnen bei, zivilisierte Menschen zu sein, also Reis anzubauen und Kleider zu tragen. Dann verschwand er wieder im Meer.

Auftritt Au Co. Als Tochter eines Königs, der aus dem Norden kam, und das Land unterwarf. In ihrer Not riefen die Einwohner nach Lac Long Quan, dem Drachenherrn, der (man ist ja ein echter Held) die Tochter entführte und sie auf einen Berg verschleppte. Der König flüchtete daraufhin verzweifelt wieder in den Norden. Über die weiteren Ereignisse auf dem Berg schweigt die Legende, aber irgendwie wurden am Ende 100 Kinder geboren. Nun ja. Eines davon war der erste Hung-König, jenes mythische Herrschergeschlecht, das am Anfang der vietnamesischen Dynastierechnung steht, auch wenn es da ein paar Probleme mit dem historischen Nachweis gibt.

Niedergeschrieben ist diese Legende in zwei der wichtigsten vietnamesischen Mythen- und Geschichtssammlungen aus späteren Jahrhunderten. Dabei sagt die erste Überlieferung noch, Au Co sei die Frau des einfallenden Königs gewesen. Der spätere Text macht aus ihr dann seine Tochter, das hat den Vorteil, dass Lac Long Quan nicht als Frauenräuber dasteht.

Außerdem gibt es auch unterschiedliche Versionen darüber, wer nun der erste Hung-König war. Die eine Überlieferung sagt, er sei einer der 50 Söhne gewesen, die bei der Mutter Au Co im Land geblieben seien. Die andere behauptet, er sei einer der 50 Söhne gewesen, die mit Lac Long Quan zurück ins Meer gingen. Also das heißt: Er ging nicht mit. Und wurde stattdessen König. Das kommt im patriachalisch geprägten Vietnam ein klein wenig besser an, denn damit ist nochmal unterstrichen, dass der erste König auch ein Männersohn war, und keiner, der an der Brust der Mutter nuckelte.

Richtig interessant aber wird es erst, wenn wir jetzt noch die Legende der Muong hinzunehmen. Die Muong sind heute eine der kleineren Minderheitsvölker in Vietnam (Zahl: etwa eine Million), aber sie kennen interessanterweise zu einem Großteil dieselben Legenden und Geschichten und haben ähnliche Traditionen. Viele Ethnologen gehen davon aus, dass die Muong und die Vietnamesen (genauer: das vietnamesische Mehrheitsvolk, die sogenannten Kinh) dieselben Vorfahren haben. Die Muong aber lebten außerhalb des chinesischen Einflussgebiets. Wenn man so will, dann leben die Muong also so, wie ganz Vietnam heute leben und denken würde, wenn die Chinesen das Land nicht 1000 Jahre lang beherrscht hätten. Sie sind also gewissermaßen ur-vietnamesischer als die heutigen Vietnamesen selbst.

Jedenfalls kennen auch die Muong die beiden Figuren Au Co und Lac Long Quan, und bei den Muong heißt es: Es waren mitnichten 100 Söhne, die da aus dem Ei kamen, sondern es waren 50 Söhne und 50 Mädchen. Ist ja auch viel logischer, wie sollen sich 100 Männer denn bitteschön vermehren? Die Hälfte folgte Au Co in die Berge und wurden zu Muong, und die andere Hälfte folgte dem Drachenherrn und wurde zu Kinh, also Vietnamesen.

Interessant ist, dass in dieser Entstehungsgeschichte bereits mit wenigen Worten so viel angelegt ist, was Vietnam heute ausmacht: Berge, Meer, der Drache, die Söhne – ach ja, und natürlich die Invasoren, die immer aus dem Norden kommen, und dann von den Vietnamesen zurückgeschlagen werden.

Und morgen lernen wir, wer die Vorfahren von Drache und Fee waren, und warum man damit den Chinesen eine lange Nase drehen kann.

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